EU-Politik

Draghi-Bericht: Das kommt auf Europa zu

Ein Artikel von aiz | 17.09.2024 - 09:37
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© TheAndras Barta/Pixabay

Europa stehe vor der „existenziellen Herausforderung“, seine Produktivität zu steigern, heißt es in Mario Draghis lange erwartetem Bericht über die europäische Wettbewerbsfähigkeit. In seinem Bericht erörterte der ehemalige EZB-Präsident zu Wochenbeginn die wichtigsten Prioritäten für ein zukünftiges Produktionswachstum, wie agrarzeitung.de berichtet.
 
„Sehr schwache Produktivität“
 
„Mehr denn je müssen wir uns auf die Produktivität stützen, aber die Produktivität ist schwach, sehr schwach“, erklärte Draghi auf einer Pressekonferenz am Montag. Wenn es Europa nicht gelinge, die Produktivität zu steigern, werde es unmöglich sein, seine politischen Ziele zu erreichen, so der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) im Vorwort nach einem Bericht des Internet-Nachrichtenportals Euractiv.

„Wir werden nicht in der Lage sein, gleichzeitig eine führende Rolle bei neuen Technologien, ein Leuchtturm der Klimaverantwortung und ein unabhängiger Akteur auf der Weltbühne zu werden. Wir werden nicht in der Lage sein, unser Sozialmodell zu finanzieren. Wir werden einige, wenn nicht sogar alle unsere Ambitionen zurückschrauben müssen“, stellte er fest.
 
Die EU habe in den letzten zwei Jahrzehnten gegenüber ihren globalen Konkurrenten an Boden verloren. „Zwischen der EU und den USA hat sich eine große Lücke im Bruttoinlandsprodukt aufgetan“, heißt es laut Euractiv im Vorwort. 70 Prozent der Lücke im Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt führe der Bericht auf das niedrigere Produktivitätsniveau in Europa zurück.

Da das verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in den USA seit 2000 fast doppelt so schnell gestiegen sei wie in der EU, „haben die europäischen Haushalte den Preis in Form eines entgangenen Lebensstandards gezahlt“, schreibt Draghi: „Der Produktivitätsunterschied zwischen der EU und den USA ist größtenteils auf den Technologiesektor zurückzuführen.“ Dies liege daran, dass „die EU bei den neuen Technologien, die das künftige Wachstum antreiben werden, schwach ist.“

Der Hauptgrund für den Produktivitätsunterschied zwischen der EU und den USA Mitte der 1990er Jahre sei das Versäumnis Europas, aus der ersten digitalen Revolution, angeführt vom Internet, Kapital zu schlagen.
 
Auf technologische Innovation und Souveränität setzen
 
Draghi ist laut Euractiv der Ansicht, dass einige digitale Sektoren, wie das Cloud-Computing, für Europa im Hinblick auf die weltweite Wettbewerbsfähigkeit „verloren“ seien. Dennoch glaubt er, dass „Europa nicht auf die Entwicklung seines heimischen Technologiesektors verzichten sollte.“

„Es ist wichtig, dass EU-Unternehmen in Bereichen, in denen technologische Souveränität erforderlich ist, weiterhin Fuß fassen“, schreibt er. Dies werde die EU in die Lage versetzen, Innovationen in einer Vielzahl von Branchen voranzutreiben, darunter Energie, Pharmazeutika, Werkstoffe und Verteidigung.

Darüber hinaus habe die EU „immer noch die Möglichkeit, von zukünftigen Wellen digitaler Innovation zu profitieren“, so Draghi. Dabei verweist er auf autonome Robotik oder Dienstleistungen im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI).

Draghi befürworte auch eine Regulierung auf EU-Ebene und stärkere europäische Investitionskapazitäten zur Förderung der Technologiesektoren. Dazu gehörten unter anderem die Bereiche Telekommunikation und Raumfahrt sowie saubere Technologien.
 
Dekarbonisierung richtig angehen
 
Zum Thema Dekarbonisierung fordere Draghi eine bessere Koordinierung der europäischen Politik. Während der Wandel zu einer klimaneutralen Wirtschaft eine „Wachstumschance für die EU-Industrie“ sein könne, „besteht das Risiko, dass die Dekarbonisierung der Wettbewerbsfähigkeit und dem Wachstum entgegenwirkt“, wenn Europa seine Politik nicht anpasst, schreibt Draghi. Derzeit seien die Energiepreise in der EU zwei- bis dreimal so hoch wie in den USA, während Erdgas vier- bis fünfmal so teuer sei.

Der ehemalige Präsident der EZB wolle das EU-Einkaufskartell stärken, langfristige Verträge mit „zuverlässigen und diversifizierten Handelspartnern“ abschließen und gegen Spekulanten vorgehen. Um die Gaspreise zu senken, brauche Europa „alle verfügbaren Lösungen.“ Dabei beziehe er sich auf die Atomkraft und die CO2-Abscheidung, unterstützt durch erweiterte Notstandsregeln, um die Genehmigungsverfahren für Kraftwerke und Netze zu beschleunigen.

Draghi ist dem Bericht zufolge der Ansicht, dass „der Sektor der sauberen Technologien unter den gleichen Hindernissen leidet […] wie der digitale Sektor.“ Deshalb fordere er eine einheitlichere Regulierung auf EU-Ebene und einen besseren Zugang zu Investitionen.
 
Finanzieller Spielraum durch Wachstum
 
Produktivitätssteigerungen würden auch entscheidend sein, um die für die Digitalisierung und Dekarbonisierung der Wirtschaft erforderlichen öffentlichen Investitionen aufrechtzuerhalten. In dem Bericht werde geschätzt, dass Europa jährlich zusätzliche Investitionen in Höhe von 750 bis 800 Mrd. € benötige.

Draghi weise darauf hin, dass private Mittel durch eine stärkere Integration der Kapitalmarktunion mobilisiert werden könnten. Er warnt jedoch, dass „der Privatsektor nicht in der Lage sein wird, den Großteil der Investitionsfinanzierung ohne Unterstützung des öffentlichen Sektors zu tragen.“ „Je mehr die EU bereit ist, sich selbst zu reformieren, um eine Produktivitätssteigerung zu erreichen, desto mehr finanzieller Spielraum wird entstehen“, betont Draghi. Die gemeinsamen EU-Mittel sollten für gemeinsame europäische Ziele wie Verteidigung und „bahnbrechende Innovationen“ vorgesehen werden. Allerdings nur unter der Bedingung, dass sich die EU-Staaten darauf einigen könnten.